„Zu viele Beschäftigte werden systematisch unwissend gehalten“

Gewerkschaften protestieren für höhere Lohne als Ausgleich der Inflation (Illustration)

Arne Gailing von ver.di Heilbronn im Interview

Die Folgen der Inflation spüren besonders Menschen mit niedrigen oder mittleren Einkommen. Gleichzeitig sind vor allem in den letzten beiden Jahren die Zahl der Millionäre und Milliardäre sowie bestehende Vermögen der Super-Reichen immer weiter gestiegen. Der Unmut der Menschen ist dementsprechend groß. Wurden die Gewinne der Unternehmen in den letzten Jahren gerecht umverteilt? Oder haben die Führungsebenen der Unternehmen gnadenlos abgeschöpft, ohne an die Menschen abzugeben, die ihre Arbeitskraft zur Verfügung stellen?

Ein wichtiger Faktor für die Entwicklung von Löhnen ist die Gewerkschaftsarbeit. Gewerkschaften verhandeln für ihre Mitglieder Tarifverträge und erstreiten so höhere Vergütungen als Arbeitgeber von sich aus zu zahlen bereit sind. Ich habe zu diesen Themen mit Arne Gailing, Gewerkschaftssekretär bei ver.di Heilbronn, gesprochen. Es ging hierbei um die Rolle von Gewerkschaften in Zeiten von Inflation, die sogenannten systemrelevanten Berufe sowie die Zukunft der Gewerkschaften.


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„Wir befinden uns in einer Preis-Preis-Spekulations-Spirale“

Erst mal ganz allgemein gefragt: Wozu brauchen Arbeitnehmer*innen eine Gewerkschaft?
Viele der für uns selbstverständlichen Gesetze und Sozialsicherungssystem haben ihren Ursprung in Initiativen, Forderungen und den Erfolgen von gewerkschaftlichen Auseinandersetzungen. Die Kranken-, Renten- und Arbeitslosenversicherung, das Entgeltfortzahlungs- , Mutterschutz- , Arbeitszeit- , Bundesurlaubs- , Mindestlohngesetz und viele mehr sähen heute ohne Gewerkschaft ganz anders aus. Oder es würde sie gar nicht geben. Und natürlich gäbe es ohne Gewerkschaft auch keinen Tarifvertrag.

Können Gewerkschaften dazu beitragen, der steigenden Inflation entgegenzuwirken?
In der aktuellen Situation haben Gewerkschaften wenig Einfluss auf den Anstieg der Inflation an sich. Das liegt daran, dass die Inflation nicht steigenden Gehältern, sondern dem Mangel an Rohstoffen, dem Zusammenbruch von Lieferketten und dem Generieren von Gewinnen und Renditen oder der Panik am Markt geschuldet ist. Wir befinden uns in einer Preis-Preis-Spekulations-Spirale und nicht in einer Lohn-Preis-Spirale.

Arne Gailing - Verdi Heilbronn (Interview Inflation 2022)
Arne Gailing, Gewerkschaftssekretär bei ver.di Heilbronn

Wie reagiert eine Gewerkschaft wie ver.di dann im Sinne der Beschäftigten auf diese Entwicklungen?
Als Gewerkschaft diskutieren wir die Forderung für anstehende Tarifrunden mit unseren Mitgliedern, dann stellen die Mitglieder die Forderung auf und gemeinsam kämpfen wir für die Durchsetzung. Das Ziel ist mindestens der Ausgleich des Kaufkraftverlustes und am besten eine Teilhabe am Produktivitätszuwachs und eine Umverteilung. Bei laufenden Tarifverträgen versuchen wir es mit Nachverhandlungen. Und wir sind natürlich auch politisch unterwegs und versuchen, politische Entscheidungen zur Unterstützung der Bevölkerung und der Beschäftigten zu erreichen. Viele Berufe haben auch eine wirtschaftliche Aufwertung als Form der Anerkennung bitter nötig. Klatschen ist nett, zahlt aber keine Rechnung.

Systemrelevant und unterbezahlt

Während der Pandemie ist oft der Begriff der sogenannten systemrelevanten Berufe gefallen. Gemeint sind damit Jobs in der Pflege, im Transport und im Einzelhandel. Doch hat sich in diesem Bereich etwa getan? Oder hat sich die Unterstützung auf das Klatschen auf dem Balkon beschränkt? Während auf einer Seite Milliarden angehäuft wurden, hat sich für jene, die tagtäglich in den Supermärkten und Krankenhäusern gearbeitet oder in den LKWs gefahren sind, wenig getan. Und genau diese Menschen spüren jetzt die erhöhten Kosten von Lebensmitteln und Energiepreisen mit am stärksten.

Wurde deiner Meinung nach genug von Gewerkschaften getan, um gegen diese Missstände anzukämpfen?
Genug getan, um gegen Missstände anzukämpfen ist erst, wenn sie beseitigt sind. Um Missstände dauerhaft aufzulösen brauchen wir die Unterstützung der betroffenen Menschen. Sie müssen verstehen, was recht und was unrecht ist und was sie dagegen tun können. Gesetze und Verordnungen sind gut, aber sie helfen wenig, wenn es an der Einhaltung scheitert.

Wie können Gewerkschaften in systemrelevanten Jobs Lohngerechtigkeit herstellen?
Die Gewerkschaften müssen die Menschen noch mehr befähigen, sich selbst für ihre Rechte stark zu machen. Viele haben das Gefühl, sie könnten alleine nichts bewegen und fühlen sich ohnmächtig. Als Mitglied einer Gewerkschaft ist das anders. Wir können die Grundlagen für Wissen und Vernetzung schaffen. Hierfür brauchen wir nur mehr Kontakte und den Zugang zu mehr Beschäftigtengruppen, zu Menschen, die mit uns gemeinsam was zum Guten verändern wollen. In unserem Zuständigkeitsbereich gibt es zu viele Branchen, in denen Beschäftigte systematisch „klein“ gehalten werden.

„Viele haben das Gefühl, sie könnten alleine nichts bewegen“

Arbeitnehmer*innen werden gezielt in prekären Beschäftigungsverhältnissen gehalten, nicht oder falsch über ihre Rechte aufgeklärt und unter Druck gesetzt, um ihnen ihre günstige Arbeitsleistung abzuzwingen. Dabei spielen natürlich das fehlende Wissen über deutsches Recht und das Sprachverständnis vielen Unternehmen in die Hände. So etwas erleben wir häufig im Bereich der Logistik, von der Spedition bis zum Paketzusteller, in der Fleischindustrie, den „Service-Betrieben“ in der Reinigung. Auch in der Logistik und Reinigung in Krankenhäusern oder im Groß- und Einzelhandel.

Und wie baut ihr in diesen Bereichen gewerkschaftliche Strukturen auf?
Zu Beginn sind es vielleicht ein bis zwei Leute aus einem Betrieb, die auf uns zukommen und was verändern wollen. Mit ihnen machen wir dann einen Plan wie wir zum Ziel kommen, beraten und unterstützen. Der erste Schritt ist – unauffällig – nach Verbündeten im Betrieb zu suchen, mit den Kolleg*innen zu sprechen und systematisch immer mehr Kolleg*innen für die Idee zu gewinnen. Egal ob die Gründung eines Betriebsrats oder der Kampf um einen Tarifvertrag, wenn die Beschäftigten sich darüber klar werden, welche Macht sie haben und wenn sie sich verbünden, dann haben Arbeitgeber keine Chance. Mit Kampagnen und Tarifrunden steigern wir Löhne und verbessern Arbeitsbedingungen. Dazu gibt es regelmäßig viele Beispiele.

„Wenn Beschäftigte sich verbünden, haben Arbeitgeber keine Chance“

Herausheben will ich die Tarifrunde zur Personalbemessung in den Krankenhäusern in NRW. Die Kolleg*innen haben 77 Tage dafür gestreikt, um eine Personalbemessung zu regeln, die so gestaltet ist, dass sie ihre Arbeit verantwortungsvoll und anständig machen können. Eigentlich verrückt, den es geht im Kern um die Sicherheit der Patient*innen. Beispiele aus der Region sind ist der Haustarifvertrag in den Neckar-Odenwald-Kliniken für die Service GmbH, dort gab es bis zu 15,5 % mehr Gehalt innerhalb von drei Monaten. Oder die aktuelle Auseinandersetzung bei der Service GmbH der SLK-Kliniken Heilbronn. Dort kämpfen die Beschäftigten für die Rückkehr in den Tarifvertrag für den Öffentlichen Dienst und die Begrenzung von Kettenbefristungen. 

„Wer soll gute Tarifabschlüsse erkämpfen, wenn Mitglieder fehlen?“

Haben sich die steigenden Lebenshaltungskosten auch schon negativ auf eure Mitgliedszahlen ausgewirkt?
Die steigenden Ausgaben für den Lebensunterhalt stellt einige Beschäftigte vor die Entscheidung, ob sie sich Gewerkschaftsbeiträge noch leisten können. Dieser Gedanke ist zwar nachvollziehbar, greift aber zu kurz. Denn wer soll denn noch gute Tarifabschlüsse erkämpfen, wenn die Mitglieder und die Durchsetzungsfähigkeit fehlt?

Wie stellt ihr euch dieser Entwicklung entgegen?
Wir versuchen, zu informieren und für die Gewerkschaft zu werben, um die Mitgliederzahlen zu stabilisieren. Und im Optimalfall sogar wieder stärker zu werden, den aktuell ist es umso wichtiger, sich als Arbeitnehmer*in, Auszubildende*r, aber auch als Bürger*in gewerkschaftlich zu engagieren. Damit die Erfolge und Errungenschaften aus der Vergangenheit nicht verloren gehen und wir mit neuen Erfolgen daran anknüpfen können.

Text & Interview: Kai Möller