AWO-Geschäftsführer Stratos Goutsidis im Interview
Ehrenamtliches Engagement für eine sozial gerechte Gesellschaft, das ist der Grundsatz der AWO. Wie der Verband entstand, in welchen Bereichen er arbeitet und wo aktuell mehr Solidarität nötig ist, darüber haben wir mit Stratos Goutsidis, Geschäftsführer des Arbeiterwohlfahrt-Kreisverbandes Heilbronn e.V., gesprochen.
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Wie ist die AWO eigentlich entstanden?
Marie Juchacz war 1919 die Begründerin der Arbeiterwohlfahrt und hatte eine bedeutende Rolle im Kampf um die Gleichberechtigung der Frauen. Sie war die erste Frau, die in einem deutschen Parlament die Rednerbühne betrat. Als sie die AWO gründete, nannte sie als Hauptaufgabe zum einen die Förderung der Idee „Wohlfahrtspflege muss vom Staat und seinen Organen betrieben werden“. Aber auch die Aufgabe der „Verhütung, Linderung und Aufhebung sozialer Notstände“ durch die Arbeiterschaft in gegenseitiger Unterstützung. Jetzt klingt für uns heute „Arbeiterschaft“ schon etwas altmodisch. Viele nennen sich nicht mehr Arbeiter oder Arbeiterinnen. Aber wenn wir den historischen Begriff übertragen, dann sind im Grunde alle gemeint, die nicht durch Vermögen gesichert sind, sondern von ihrer Arbeit leben, alle die in Not geraten. Ob wirtschaftlich oder seelisch ist dabei letztlich egal und hängt oft zusammen.
Die AWO gehört zu den sechs Spitzenverbänden der Freien Wohlfahrtspflege in Deutschland. Was versteht man genau unter dem Begriff Arbeiterwohlfahrt?
Die Arbeiterwohlfahrt gibt es als Verband in ganz Deutschland. Die einzelnen AWOs vor Ort sind wirtschaftlich unabhängige Organisationen, die auf allen Gebieten der Sozialen Arbeit tätig sind. Der ganze Lebenszyklus wird dabei abgedeckt, von frühen Hilfen bis Seniorenarbeit über Schulsozialarbeit, Förderung von Kindern und Jugendlichen, die benachteiligt sind, bis zur Schuldnerberatung ist da alles möglich. Das Besondere ist, dass wir weltanschaulich völlig unabhängig sind.
Die Grundsätze der AWO, Solidarität, Toleranz, Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit sind die Grundlage Ihres Handelns. Was bedeuten diese Begriffe für die Arbeit der AWO Heilbronn?
Zum einen heißt das, dass wir uns an diesen Grundwerten orientieren. Jeder Grundwert alleine kann schon ganze Bücher füllen. Aber wenn ich es in wenigen Worten beschreiben soll, dann bedeutet Solidarität beispielsweise, die Gemeinschaft zu fördern, aktiv Menschen aus unterschiedlichen Milieus zusammenzubringen, Kindern und Jugendlichen die Möglichkeit zu bieten, sich über alle Grenzen hinweg mit anderen zu verbinden. Toleranz heißt gerade heute, andere Meinungen, Ideen, religiöse und weltanschauliche Überzeugungen und Gewohnheiten so lange zu akzeptieren, wie sie vereinbar mit unseren Grundrechten sind.
Freiheit bedeutet, sich dafür einzusetzen, dass alle Menschen selbstbestimmt und in Würde ihr Leben gestalten können. Gleichheit meint nicht nur gleiche Rechte für alle Menschen, sondern auch den aktiven Schutz vor Diskriminierung jeglicher Art. Und Gerechtigkeit definieren wir in erster Linie so, dass wir Chancengleichheit herstellen wollen – davon sind wir in Deutschland weit entfernt. Viele Kinder haben eben nur schlechte Chancen, viele Familien können eben kaum „mithalten“. Das wollen wir ändern und deshalb ist uns das eine hohe Motivation.
Und wie setzen Sie diese Werte bei Ihrer täglichen Arbeit um?
Unsere tägliche Arbeit mit Kindern, Jugendlichen und Familien, die durch ganz unterschiedliche Ursachen an den Rand ihrer Möglichkeiten kommen und Unterstützung brauchen, wäre ohne diese Werte gar nicht beschreibbar. Jeder einzelne Mitarbeiter, jede einzelne Mitarbeiterin versucht durch tatkräftiges Tun, diese Werte für die Menschen erfahrbar zu machen. Ihnen zu zeigen, dass sie trotz ihrer Schwierigkeiten geachtet und respektiert werden, nicht zum Bittsteller degradiert, nicht als Versager gebrandmarkt werden. Jeder von uns kann in Situationen kommen, die so schwierig sind, dass wir Hilfe brauchen. Das haben wir in der Pandemie gesehen und wir werden es in den nächsten Jahren weiter erleben.
Wenn wir diese Werte aus den Augen verlieren, wird sich die Gesellschaft nicht zum Guten verändern. Zum anderen versuchen wir, Orte der Begegnung, wie zum Beispiel Quartierszentren, über Generationengrenzen hinweg zu bespielen oder wichtige Themen in die Mitte der Heilbronner Gesellschaft zu holen. Zuletzt war dies zum Beispiel eine Beratungsstelle für Essstörungen und selbstverletzendem Verhalten, welche von vielen jungen Menschen, aber auch von Familienangehörigen aufgesucht wird. Ebenso sind wir gerade dabei, einen virtuellen „SAFE SPACE“ für queere junge Menschen (@4youngqueers_hn) aufzubauen.
Was muss die Gesellschaft im Allgemeinen tun, um mehr Solidarität und Gemeinschaft im Alltag zu leben?
Naja, wir haben nachweislich ein extremes Auseinanderdriften der gesellschaftlichen Gruppen. Die, die kein Vermögen haben und deshalb besonders getroffen werden durch Inflation und Energiekosten und die anderen, die Vermögen haben und deshalb all dies viel eher aushalten können oder nicht einmal spüren. Wir brauchen die Solidarität der wohlhabenden Menschen mit den anderen. Auch die Kommunen müssen sparen – leider trifft dies oft Kinder, Jugendliche und Familien, die eigentlich eher mehr Unterstützung bräuchten. Als AWO haben wir ja kein eigenes Geld, deshalb schlägt jede Einsparung des Staates sofort auf die Schwächsten durch. Wenn sich Unternehmen und Wohlhabende auf eine Verantwortungsgemeinschaft einließen, Sach- und Geldspenden beisteuern würden, könnten wir vielen Kindern und Jugendlichen zeigen, dass es der Gesellschaft eben nicht egal ist, was aus ihnen wird.
Was sind die Ziele der AWO Heilbronn für 2023 und kann man sich aktiv an Ihrer Arbeit beteiligen?
Wir sind immer noch mit den Schäden beschäftigt, die die Pandemie angerichtet hat. Viele Kinder und Jugendliche haben Schwierigkeiten in der Schule, finden nicht mehr in ihren Alltag hinein, erkranken seelisch. Viele Eltern haben Ängste entwickelt und können die alltäglichen Probleme kaum noch abfangen. Für diese Aufgabenkreise brauchen wir ausgebildete Kräfte. Aber in einigen Projekten wäre durchaus Platz und Bedarf an ehrenamtlichen Helfern jeden Alters. Wenn ich mir etwas wünschen dürfte, wäre dies, dass sich ein paar Wohlhabende zusammentun, um uns dabei zu helfen, die Personalstellen in den Beratungszentren zu sichern. Oder Unternehmen sich verantwortlich fühlen für die digitale Bildung von Jugendlichen. Uns würde genug einfallen, man muss nur mit uns reden. Was wir brauchen ist Zeit oder Geld, Ehrenamtliche oder Spendende.
Wir danken Stratos Goutsidis für diesen tiefen Einblick in die Bedeutung, Arbeit und die Ziele der AWO Heilbronn. Wer sich selbst einbringen will, findet unter auf der AWO-Website weitere Infos und Kontaktmöglichkeiten.
Die Arbeit der AWO Heilbronn finanziell unterstützen kannst du außerdem über dieses Spendenkonto:
Kreissparkasse Heilbronn
IBAN: DE37 6205 0000 0000 1267 26
BIC: HEISDE66XXX
Verwendungszweck: „Spende"
Interview: Yagmur Kapik-Selek
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