„Die wachsende Ungleichheit ist demokratiegefährdend“

Ungleichheit: Interview Martyna Linartas

Martyna Linartas über das Projekt Ungleichheit.info

Über eine zunehmende Ungleichheit innerhalb der Bevölkerung gibt es bislang in erster Linie schwer zugängliche Fachliteratur. Das hat Martyna Linartas im Zuge ihrer wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Thema festgestellt. Nach ihrem Master beschäftigt sich die Politikwissenschaftlerin nun auch im Zuge ihrer Doktorarbeit mit dem Thema – und möchte das Wissen über Ungleichheit einer breiten Masse zugänglich machen. So ist das Projekt Ungleichheit.info entstanden. „Eine 16-jährige soll unsere Inhalte ebenso verstehen können wie meine Großmutter“, sagt Martyna.

Unterstützt wird sie dabei von der Informationsdesignerin Luzie Bayreuther, die komplexe Sachverhalte in einprägsame Illustrationen für Social Media gießt und das gesamte Design entwickelte. Außerdem kümmern sich Michael Gabrielewicz aus Warschau und Marcos Sánchez aus Mexiko um die Technik hinter dem Webauftritt. Input kommt auch von Studierenden aus dem Seminar zu „Inequality: Theory and Practice“, das Martyna an der Freien Universität Berlin gibt. Wir haben mit Martyna über das Projekt und das große Thema dahinter gesprochen.


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Wie ist Ungleichheit.info entstanden?
Aus meiner wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Thema. Ich habe meine Masterarbeit über Ungleichheit geschrieben und festgestellt, dass es zu einem der größten Probleme unserer Zeit – die Schere zwischen Arm und Reich, die im Begriff ist, weiter zu wachsen – lediglich schwer zugängliche Fachliteratur gibt. Im Laufe meiner Doktorarbeit hat sich dieser Eindruck dann noch erhärtet. Mir ist bewusst geworden, dass es einfach kein Angebot gibt, wenn Laien sich damit befassen wollen, ohne dass sie über Fachbegriffe oder Konzepte aus dem entsprechenden Studium stolpern würden. Aus der Überzeugung heraus, dass Wissen Macht bedeutet, ist das problematisch. Deshalb gibt es Ungleichheit.info.

Wer gehört zum Team dahinter?
Luzie gießt die Informationen in eine Visualisierung und konzipiert das Design, Inhalte kommen von mir, außerdem gibt es zwei Webdesigner, Michael aus Warschau und Marcos aus Mexiko, die unserer Website Leben eingehaucht haben. Ich habe auch das Glück, dass ich ein Seminar zu „Inequality: Theory and Practice“ an der Freien Uni gebe, in dem ich meine Studierenden einbinden kann. Da lernen sie einerseits die wichtigsten Konzepte und Theorien zu Ungleichheit kennen, andererseits steuern sie im praktischen Part selbst Projekte bei – von klassischen Book Reviews bis hin zu Interviews mit Akteur:innen aus Berlin, die sich mit Ungleichheit befassen.

Martyna Linartas - Ungleichheit.info
Politikwissenschaftlerin Martyna Linartas, Gründerin von Ungleichheit.info

An wen richtet sich eure Website, wen wollt ihr damit erreichen?
Allgemein gesprochen: Eine 16-jährige soll unsere Inhalte ebenso verstehen können wie meine Großmutter. Gleichzeitig können aber auch Leute, die sich dem Thema wissenschaftlich nähern wollen, auf unsere Website oder unsere Social-Media-Kanäle gehen, weil wir auch Fachliteratur an die Hand geben. Genauso Klimawissenschaftler:innen, die nachvollziehen wollen, wie Klima und Ungleichheit zusammenhängen. Unser Anspruch ist also auch, dass die Seite als eine Art Archiv für weiterführende Literatur zum Thema fungiert.

Gibt es bestimmte Faktoren zur Ungleichheit, die bisher noch nicht so im allgemeinen Bewusstsein verankert sind, wie sie es deiner Meinung nach sein sollten?
Laut einer Studie der Uni Konstanz gehen die meisten Deutschen davon aus, dass die Einkommensungleichheit größer ist als die Vermögensungleichheit. Tatsächlich ist es genau andersherum. Gemessen am Vermögen ist Deutschland eine der ungleichsten Demokratien der Welt. Ein weiterer wichtiger Aspekt ist, dass die meisten sich zur Mittelschicht zählen – sowohl die Armen als auch die Reichen.

Ungleichheit.info (Grafik)
Wenn es Chancengleichheit gäbe, würden im (Ver-)Lauf des Lebens die Menschen auf selber Höhe ins Leben starten. Aber es ist von großer Bedeutung, in welche Familien jemand hineingeboren wird, ob als Mann oder Frau, welcher Religion man zugehörig ist usw. | Idee der Darstellung beruht auf The Guardian 2019.

Das ist deswegen problematisch, weil es die Einstellung gegenüber Politik im Sinne der Umverteilung beeinflusst: Wenn sich alle zur Mitte zählen, braucht es auch weniger verteilungspolitische Maßnahmen. Dabei ist die Schere zwischen Arm und Reich gigantisch. Aber sie war nicht immer so extrem. Erst in den letzten dreißig Jahren hat sie sich derart weit geöffnet. Die Einkommen haben sich stark gespreizt, vor allem aber ist die Vermögensungleichheit durch die Decke gegangen. Mittlerweile besitzen nur noch zwei Familien mehr Vermögen, als die ärmere Hälfte der deutschen Bevölkerung, also als 41,5 Millionen Menschen.

Wie ist diese Ungleichheit entstanden?
Unsere Politik in den Bereichen Wirtschaft, Finanzen, Steuern und Lohn waren zuletzt neoliberal geprägt. Konzepte wie Trickle-Down-Economics – Steuern für Unternehmen und Vermögende senken, damit mehr Kapital für Investitionen zur Verfügung steht, was früher oder später allen zu Gute kommt – haben nicht funktioniert. Zuletzt haben Hope und Limberg von der London School of Economics in einer Studie gezeigt, dass diese Annahmen falsch sind. Steuersenkungen für die Reichsten hatten keinen signifikanten Einfluss auf das Wirtschaftswachstum. Ein Effekt, der hingegen gemessen wurde, war die wachsende Ungleichheit. Diese gewachsene Ungleichheit ist kein Naturphänomen, sondern das Ergebnis der neoliberalen Politik.

Warum macht bei der wirtschaftlichen Ungleichheit die Unterscheidung zwischen Einkommen und Vermögen Sinn?
Einkommen und Vermögen sind nicht nur unterschiedlich ungleich verteilt, sie sind auch zwei verschiedene Größen. Einkommen sind eine sogenannte Stromgröße und an einzelne Individuen gebunden: Was verdienst Du am Ende des Monats? Vermögen hingegen sind sogenannte Bestandsgrößen und setzen sich anders zusammen: Entweder aus Kapital, das Du im Laufe Deines Lebens erwirtschaftest, oder aber Du kannst es erben. Und Letzteres ist in Deutschland insofern problematisch, weil mittlerweile mehr als die Hälfte aller Privatvermögen nicht mehr erarbeitet, sondern vererbt werden.

Einkommen: Ungleichheit in Deutschland 2021 (Illustration)
Der Vorstandsvorsitzende von VW, Herbert Diess, hat im Jahr 2019 rund 9,9 Millionen Euro verdient. Zum Vergleich: Angela Merkel bekam im selben Jahr 473.040 Euro, während das Durchschnittsgehalt eines Deutschen bei 46.560 Euro lag und eine Person bei Vollbeschäftigung mit Mindestlohn 20.000 Euro verdiente. | Quellen: Kewes 2020, Pospiech 2021.

Aktuell werden Einkommen aber hoch besteuert und Vermögen kaum – was weiter zur wachsenden Ungleichheit beiträgt. In einer Studie im letzten Jahr empfahl die OECD glasklar, Vermögen und Erbschaften höher und progressiv zu besteuern. Denn ohne hohe und progressive Steuern, wachsen die Vermögen weiter exponentiell. Das ist reine Mathematik. Falls nichts in dieser Hinsicht geschieht, wird es zunehmend darauf ankommen, in welche Familie man hineingeboren wird. Und nicht, welcher Arbeit man nachgeht.

Ihr schreibt, dass sowohl Besserverdiener die restliche Bevölkerung zunehmend abhängen als auch extrem hohe Vermögen sich immer stärker auf wenige Personen konzentrieren. Woran liegt das?
Vor allem an der Steuerpolitik. Steuern sind das wichtigste demokratische Instrument. Sie sind nicht nur unerlässlich, um überhaupt ein Wohlfahrtssystem bilden zu können – klar. Sie sind auch ein Mittel, um konkret gegen Ungleichheit anzugehen. Diese Funktion ist im Neoliberalismus völlig ins Hintertreffen geraten. Bei Einkommen gelingt uns die Reduzierung von Ungleichheit mit hohen und progressiven Steuersätzen wunderbar. Bei Vermögen allerdings nicht, weil wir Ende der Neunzigerjahre die Vermögensteuer ausgesetzt, die Erbschaftsteuer durchlöchert haben und weil wir seit 2009 Kapitalerträge nicht mehr progressiv besteuern.

Soziale Herkunft & Bildungsabschlüsse (Akademiker) - Illustration 2020
In Deutschland gehen 74 Prozent der Akademikerkinder zur Uni und nur 21 Prozent der Nicht-Akademikerkinder.

So fehlt ein elementares demokratisches Instrument, um der kapitalistischen Logik von Kapitalakkumulation etwas entgegenzusetzen. Deshalb ist die Steuerpolitik gerade hier so wichtig. Ein zweiter Aspekt ist die Lohnentwicklung: Bei den Einkommen haben die oberen 10 Prozent in den letzten drei Jahrzehnten ein Plus von 40 Prozent erlebt, während die unteren Einkommen real stagniert sind. Das bedeutet, dass die unteren Einkommensschichten im Verlaufe ihres Lebens kaum oder nichts auf die Seite packen konnten, die reicheren jedoch schon.

Gibt es bei der wirtschaftlichen Ungleichheit Probleme, die spezifisch für Deutschland sind?
Nicht nur beim Fußball sind wir weltspitze, auch bei der Vermögensungleichheit sind wir ganz weit mit vorn. Spezifisch ist, wie stark die Vermögensungleichheit gewachsen ist und welchen Anteil Erbschaften am Gesamtvermögen ausmachen. In den Siebzigerjahren lag der Anteil von Erbschaften am Gesamtvermögen bei etwa 20 Prozent, heute bei über 50 Prozent. Dazu tragen auch die extremen Steuerprivilegien für Firmenerben, Multi-Millionäre und Milliardäre bei. Laut der neusten Erbschaftssteuerstatistik zahlt man bei einer Erbschaft über 20 Millionen Euro heute weit weniger Steuern als jemand, der ein paar Hunderttausend Euro erbt. Das ist eine absolute Schieflage. Und demokratiegefährdend.

Inwiefern?
Allem voran deswegen, weil es nicht mit unserem Verständnis von Demokratie einhergeht, wenn Lebenschancen im hohen und zunehmenden Maß davon abhängen, in welche Familie jemand geboren wird. Menschen über 40 Jahre haben die Erfahrung gemacht, dass Fleiß und Einkommen ihren Aufstieg ermöglichten. Aber das Blatt hat sich gewendet. Zudem bedeutet Vermögen ab einer gewissen Höhe nicht nur mehr Geld, Aktien, Häuser oder Kunst, sondern Macht. Wenn nun aber mehr als die Hälfte aller Vermögen vererbt wird und vor allem die größten Vermögen ein Erbe sind, dann liegen auch die politischen Einflussmöglichkeiten bei eben jenen Erben.

Vermögen: Ungleichheit Menschenkette (Illustration)
Von Köln nach Lissabon sind es etwa 2.200 km. Für eine Menschenkette mit 1m Abstand bräuchte man für diese Strecke etwa 2,2 Millionen Menschen. All diese Menschen zusammen haben so viel Vermögen wie die eine Person am Ende der Menschenkette. | Quelle: Oxfam 2020; eigene Kalkulation von Ungleichheit.info.

Die ungleiche Möglichkeit der politischen Einflussnahme setzt aber nicht erst bei den Milliardär:innen ein. Lea Elsässer und andere haben gezeigt, dass die Politik auf die Interessen der oberen zehn Prozent ausgerichtet ist. Laut dieser Studie ist die ungleiche Repräsentation der Interessen der deutschen Bevölkerung gemessen am Einkommen sogar noch extremer als in den USA. Wenn es zunehmend nur um die Interessen der oberen zehn Prozent geht, wenden sich Leute von alteingesessenen, etablierten Parteien ab. Die Hans-Böckler-Stiftung stellt beispielsweise auch einen direkten Zusammenhang zwischen der ökonomischen Unsicherheit, den damit verbundenen Abstiegsängsten und den höheren Wahlergebnissen für die AfD in Ostdeutschland her. Also wenn diese Entwicklung nicht demokratiegefährdend ist.

Was können Menschen tun, die eure Infos sehen und sich nun selbst gegen die wachsende Ungleichheit engagieren wollen?
Unser Motto lautet: Ungleichheit verstehen, vermitteln und verringern. Einerseits ist es uns ein Anliegen, Wissen über Ungleichheit leicht verständlich anzubieten. Andererseits liegt uns daran, dieses Wissen und auch die Arbeit von Akteur:innen zu vermitteln, die sich ebenfalls für die Reduzierung der Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten einsetzen. Im Alleingang wird es niemandem gelingen, am Status quo zu rütteln. Deswegen sind Synergien und der Verweis auf Kampagnen und Initiativen zum Thema sehr wichtig für uns. Und es gibt bereits so einige starke und progressive Akteur:innen, wie etwa Forum New Economy, Finanzwende e.V., taxmenow, das Netzwerk Steuergerechtigkeit, Lobbyland oder Fiscal Future – um nur einige zu nennen. In diesem Sinne: Falls ihr Twitter oder Instagram habt – unbedingt folgen!

Interview: Florian Deckert | Illustrationen: Luzie Bayreuther


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