„Queere Jugendliche sollen wissen, dass ihr Leben wichtig ist“

Sabrina Paulino: Interview - Geschlechtliche & sexuelle Vielfalt (LGBTQAI Heilbronn) - 1

Pädagogin Sabrina Paulino über ihre Arbeit zu geschlechtlicher und sexueller Vielfalt

Offen, tolerant und solidarisch – so sieht sich die Mehrheitsgesellschaft in Deutschland und wahrscheinlich auch in Heilbronn gerne. Dass wir diesem hehren Anspruch nicht in allen Bereichen gerecht werden, weiß Sabrina Paulino aus ihrem Arbeitsalltag. Die Bad Wimpfenerin war sechs Jahre lang Schulsozialarbeiterin für geschlechtliche und sexuelle Vielfalt, außerdem bietet sie freiberuflich Antidiskriminierungs-Trainings an. Wir haben mit Sabrina über die Bedürfnisse queerer Jugendlicher, den Mangel an Beratungsangeboten und die Situation der LGBTQAI+-Community in Heilbronn gesprochen.


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Sabrina, wie bist du eigentlich Pädagogin & Fachkraft für geschlechtliche und sexuelle Vielfalt und Antidiskriminierung geworden?
Ich bin Sozialarbeiterin, habe erst Erzieherin gelernt und dann Sozialmanagement studiert. Im Zuge dessen habe ich mich viel mit multikultureller Vielfalt beschäftigt, auch weil ich selber eine Migrationsgeschichte habe. Habe mich zum Beispiel für Geflüchtete eingesetzt und jedes Jahr weitere Fortbildungen gemacht. Dann kam in einem Jahr eine Fortbildung zum Thema „Geschlechtliche und sexuelle Vielfalt“ ins Haus geflattert. Das war von einem Träger aus Berlin, der das zum ersten Mal in Baden-Württemberg angeboten hat. Als ich da dann bei dieser Schulung angekommen bin, war ich so ein bisschen wie das Lieschen vom Lande (lacht). Das Thema war also erst mal ganz neu für mich, aber ich lerne unheimlich gerne dazu. Im ersten Jahr der Schulung setzte ich direkt auch ein Praxisprojekt mit meinen Kids in der Schule um. Danach hatte ich die Möglichkeit, ein sogenanntes „Train-the-Trainer“-Programm zu absolvieren, mit dem ich Erwachsene, also pädagogische Fachkräfte oder sogenannte Gatekeeper*innen ausbilden kann.

Hast du nach dieser Fortbildung gesehen, dass es bei diesem Thema noch ungedeckten Bedarf in der Region gibt?
Das ist fast nett gesagt, es gab und gibt auch heute so gut wie kein Angebot für queere Jugendliche hier im Landkreis. Nach meinen ersten drei Tagen im Lehrgang bin ich zurück in die Schule und wollte einfach mal ausprobieren, beim Sprechen so zu gendern wie meine Referent*innen. In einer achten Klasse habe ich dann glaube ich zweimal ganz krampfig „Schüler… innen“ gesagt. In der nächsten Pause kamen dann direkt vier Schüler*innen zu mir, die mich gefragt haben: „Kennst du dich mit der Thematik aus? Können wir mit dir darüber reden?“ Und was gleichzeitig passiert ist: Der Lehrer hat mich nie wieder in seine Klasse gelassen.

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Weil du zweimal beim Sprechen gegendert hast?
Genau. Und ich hatte pinke Haare, das kam wohl noch erschwerend hinzu. Aber ja, ich durfte keine Projekte mehr in dieser Klasse machen. Weil ich Kinder anders sehe und das Ansprechen von Sexismus bei einer männlichen Lehrkraft manchmal schwierig sein kann.

Trotzdem bist du bei dem Thema geblieben. Warum?
Es gibt hier im Landkreis einfach wenige Erwachsene, die diese Dinge von sich aus ansprechen. Viele Themen sind tabuisiert, sodass die Schüler*innen glauben, sie dürften da nicht drüber reden. Geschlechtliche und sexuelle Vielfalt, mentale und psychische Gesundheit, Gewalt, Rassismus, alle Diskriminierungsformen. Durch meine Fortbildung habe ich eine Sprache gelernt, die ich selbst als Jugendliche nicht hatte. Außerdem steht sogar im Kinder- und Jugendhilfegesetz explizit, dass wir homosexuelle und intergeschlechtliche Jugendliche fördern müssen (§9KJHG). Und niemand macht das hier.

Weil viele Schulen denken, bei ihnen gäbe es gar keine queeren Jugendlichen?
Der ganze Landkreis denkt das, habe ich das Gefühl. Es gibt mittlerweile durchaus einige Schulen, die mich für Workshops und Beratungen angefragt haben. Aber bezahlen will es niemand. Es gibt momentan noch keine öffentlichen Fördergelder von kommunaler Seite. Die AWO macht das mit mir aus eigener Tasche, weil der Verband das Thema wichtig findet und weil er natürlich dafürsteht, sich für alle Menschen einzusetzen. Aber das Projekt ist momentan nicht refinanziert. Deshalb mache ich die Arbeit nicht nur ehrenamtlich, sondern zusätzlich als selbständige Coachin.

Also ist die Finanzierung aktuelle das Hauptproblem?
Nicht nur, auch der Fachkräftemangel. Viele Lehrer*innen würden ebenfalls gerne zu diesen Themen arbeiten, sind aber nicht dafür ausgebildet und ohnehin schon völlig überlastet. Was natürlich auch daran liegt, dass man nicht in entsprechende Fachkräfte investiert.

Woher bekommt man diese Fachkräfte?
Es braucht Träger, die sie ausbilden. Und das braucht Zeit. Denn wenn du mit Erwachsenen zu geschlechtlicher und sexueller Vielfalt arbeitest, müssen sie Konzepte hinterfragen, die sie ihr Leben lang gelernt haben. Da spielen auch Rassismus, Ableismus, Adultismus und Klassismus mit rein, das ist alles intersektionell. Und da muss ich als – meistens – weiße, deutsche Person in der Sozialarbeit meine Privilegien hinterfragen. Ich habe in diesen zwei Jahren meiner Weiterbildung praktisch mein ganzes Leben auf den Kopf gestellt. Sowas lernst du also nicht mal g’schwind nebenher.

Mittlerweile kannst du aber zu sexueller und geschlechtlicher Vielfalt an Schule arbeiten, oder?
Ja. Als ich nach Bad Wimpfen gewechselt bin, habe ich der Schulleitung direkt gesagt: Wenn ich kommen soll, dann nur mit meinen Themen. Das habe ich dann auch gemacht. Und schon nach kurzer Zeit hatte ich Outings bei mir im Büro. Das hat mich dann dazu bewogen, mit einem Kollegen zusammen einen virtuellen Safe Space einzurichten.

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Wie wurde der angenommen?
Wir hatten schnell zehn queere Jugendliche von zwei Schulen aus Bad Wimpfen, die wöchentlich mit uns in einem Zoom-Raum saßen. Die dachten alle jahrelang, dass sie alleine sind. Auch weil unser Gesundheitssystem, unsere Therapeut*innen völlig überlastet sind. Uns muss klar sein, dass Arbeit für queere Jugendliche aktive Suizidprävention ist. Denn die Suizidraten sind bei diesen viermal höher als bei nicht-queeren Jugendlichen, also wirklich gravierend. Sobald sie aber Unterstützung und Anerkennung erfahren, verschwindet dieses erhöhte Risiko vollständig auf das Niveau wie bei nicht-queeren Jugendlichen, das ist durch Studien eindeutig belegt. Einfach nur dadurch, dass man Kinder und Jugendliche ernst nimmt.

Worüber sprecht ihr in deinem aktuellen virtuelle Safe Space „4YoungQueers*HN“, den du bei der AWO anbietest?
Wir treffen uns da einmal die Woche online und quatschen einfach. Ich bereite dafür einen pädagogischen Rahmen vor und frage zum Beispiel am Ende jedes Mal: Was tut ihr euch Gutes für nächste Woche? Aber die Themen, die wir innerhalb dieser Treffen besprechen sind total unterschiedlich. Manchmal haben die Jugendlichen etwas in der Schule erlebt und möchten darüber reden. Wir haben uns aber auch schon mal einfach ganz lange über eine Serie unterhalten (lacht). Oder wir sprechen über Themen wie Pride, den CSD und so weiter – was auch immer sie gerade brauchen. Aber es gibt natürlich auch queere Menschen, die keinen Bock auf bunte Haare und CSD haben. Gerade die ruhigen Kinder werden häufig übersehen und sollen bei uns auch einen Platz finden. Das Wichtige daran ist, dass alle merken, nicht alleine zu sein. Im Zoom-Raum haben sie den Namen und die Pronomen, mit denen sie angesprochen werden möchten.

Warum findet das Ganze online statt?
Viele der Jugendlichen haben nicht die Möglichkeit, nach Heilbronn reinzukommen. Und schon gar nicht, ohne dass es die Eltern mitbekommen. Das ist also immer noch ein Problem. Und natürlich geht das Thema enorm an das Innerste der Person, wodurch du extrem verletzbar bist. Queere Jugendliche machen außerdem von klein auf die Erfahrung, dass sie Gewalt ausgesetzt sind. Schon in der Grundschule wird „schwul“ als Schimpfwort verwendet und es gibt nicht genug Erwachsene, die sich dagegen positionieren. Sowas ist in der Phase der Identitätsfindung im Zweifelsfall lebenserschütternd.

Gibt es das Ziel, irgendwann aus diesem Safe Space herauszutreten?
Das Ziel des Projekts ist erst mal, eine Grundsicherung zu bieten. Wenn Jugendliche mal nicht kommen, frage ich zum Beispiel per Mail nach, ob alles in Ordnung ist. Sie sollen wissen, dass wir uns gegenseitig wichtig sind und dass ihr Leben einen Unterschied macht. Alles, was sie darüber hinaus für sich entscheiden, begleite ich. Wir schauen zum Beispiel individuell, ob es Sinn macht, Sozialarbeiter*innen, Lehrkräfte oder Personen aus dem jeweiligen Umfeld – Freunde oder Eltern zum Beispiel – mit ins Boot zu holen. Manche der Jugendlichen sind zum Beispiel schon geoutet, bei den Eltern, dem engsten Freundeskreis oder Pädagog*innen. Andere haben nach einer Teilnahme im Safe Space das Gefühl, dass sie sich morgen gleich der ganzen Welt outen wollen. Da bremse ich dann eher und rate, erst noch mal in sich reinzuhören, ob das so sinnvoll ist. Ich begleite die Jugendlichen also ganz individuell da, wo sie gerade stehen.

Und die Eltern von queeren Jugendlichen berätst du auch, wenn sie mit Fragen auf dich zu kommen?
Über 4youngQueers*HN nicht, aber über meine selbstständige Tätigkeit biete ich die Möglichkeit. Da fehlt es im Endeffekt auch wieder an der Finanzierung für ein ehrenamtliches Angebot. Wir hatten aber zum Beispiel am 20. August die Demo zum Thema „Familie ist vielfältig“, da haben mich auch Eltern direkt angesprochen: „Mein Kind hat mich etwas gefragt und ich weiß die Antwort nicht, wo kann ich mich hinwenden?“ Da ist das Angebot eben sehr dünn. Wir leben im Raum Heilbronn auch in einer Gesellschaft, in der viel darauf geachtet wird, was die anderen von einem denken. Wo an bestimmten Bildern nicht gerüttelt werden soll. Deshalb gibt es mein Online-Angebot, über das man sich erst mal diskrete Beratung holen kann.

Die CSD-Veranstaltung „Familie ist vielfältig“ war ja eine Gegendemo gegen rechte Vereinnahmung von LGBTQ-Themen. Wie siehst du da aktuell die Stimmung im Landkreis Heilbronn?
Ich bewege mich natürlich in einer Art Bubble, in der die Haltung relativ offen ist. Aber ich habe das Gefühl, dass es im Landkreis sehr schwer ist, das Thema voranzubringen. Weil wir diese Gemeinschaft hier noch nicht gefunden haben. Bisher habe ich nur Menschen getroffen, die sich entweder dafür eingesetzt haben und dann Gewalt erfahren mussten. Oder Menschen, die sich deswegen erst gar nicht trauen, sich zu zeigen, wie sie sind – auch Erwachsene. Weil Heilbronn echt kein sicheres Pflaster ist.

Hier werden Menschen auf der Straße bespuckt, weil sie anders aussehen. Wir haben hier auch eine große AfD-Wählerschaft, was mir Angst macht. Es gibt hier außerdem eine große Vielfalt, aber gleichzeitig viele Menschen, die sich auf Biegen und Brechen anpassen, um keine Gewalt zu erfahren. Das erlebe ich gerade in migrantisierten Gruppierungen. Allgemein nehme ich das gesellschaftliche Klima deswegen sehr kühl wahr. Mir fehlt es, dass Menschen zueinanderstehen. Ich bin überzeugt: Wenn wir lernen, dass wir eine bessere Welt gestalten können, wenn wir für einander einstehen, würden wir viele Probleme lösen. Durch Veranstaltungen wie den CSD im August oder auch den digitalen Safe Space sehen Menschen: Wow, wir sind ja gar nicht allein.

Gibt es da Pläne, die Community in Heilbronn weiter und dauerhaft zu stärken?
Wir gründen den Verein RegenbogenHafeN e.V. – zum Coming-out-Day am 11. Oktober. Wir möchten damit ein Dach bieten für alle Gruppierungen, die eines brauchen. Ganz unterschiedliche queere Gruppierungen und Einzelpersonen sollen sich hier für Vielfalt und Akzeptanz vernetzen: Zum Beispiel auch nicht-weiße Personen und behinderte Menschen.

Sabrina Paulino - Interview (Love Is Love)

Rund um das neue Selbstbestimmungsgesetz wurden immer wieder auch Stimmen aus konservativen bis rechten Kreisen laut, dass der Entwurf zu weit geht. Was bedeuten solche Äußerungen, gerade aus der Politik, für deine Arbeit?
Wir sind in Deutschland und hier kriegen die Leute eine Plattform, die am lautesten schreien. Das sind Menschen, die potenziell weiß sind und Kohle haben – so war es schon immer. Und nur weil die laut sind, haben sie noch lange nicht recht. Das bringen wir ja eigentlich schon unseren Kindern bei. Wir haben ein Grundgesetz, in dem steht: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Das steht ganz oben und alles was danach kommt, sollte eine Auslegung dessen sein. Warum dann auf einmal in unterschiedlichen Bereichen die Würde des Menschen eingeschränkt wird, ist mir ein absolutes Rätsel. Und in Bezug auf den – unzureichenden – Entwurf des Selbstbestimmungsgesetzes: Nichts davon, was hier queeren Menschen zugestanden wird, würde einem anderen wehtun. Nichts. Deswegen ist die Kritik daran pure Menschenfeindlichkeit.

Gibt es da konkrete Unterstützung die du dir wünschen würdest, gerade aus der sogenannten Mehrheitsgesellschaft?
Die Leute sollen nicht nur im stillen Kämmerlein ihre Unterstützung äußern, sondern überall. Auf der Straße, am Esstisch, in der Bahn, auf der Arbeit. Ob du im Büro arbeitest, im Krankenhaus, in der sozialen Arbeit, auch bei euch in der Presse: Jede*r von uns begegnet Menschenfeindlichkeit. Und ich erwarte von erwachsenen, mündigen Personen, dass sie das nicht unwidersprochen stehen lassen. Wenn nicht die Opfer von Diskriminierung, sondern die Außenstehenden sich eindeutig dagegen positionieren, nimmt man Täter*innen die Macht. Und dann verändert sich die Dynamik. Das ist anstrengend, aber diese Anstrengung muss man auf sich nehmen. Sobald Verbundenheit entsteht, werden Dinge leichter – und wir können es uns alle leichter machen.

Interview: Florian Deckert | Fotos: Cathrin Bronni (@cathrinbronniphotographie)


Sabrina Paulino - Diverse Brille
4youngQueersHN - AWO: Virtueller Safespace Heilbronn

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