Himmelhoch jauchzend, im Boden versinkend

Annie Ernaux Erinnerungen eines Mädchens (Rezension)

“Erinnerung eines Mädchens“ von Annie Ernaux

Bewunderung, Schmerz, Verlangen und Enttäuschung: Das, was die meisten Menschen unter der Illusion der ersten Liebe erleben. Annie Ernaux, die 2022 mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet wurde, widmet sich in ihrem autobiografischen Roman “Erinnerung eines Mädchens“ mit stechend scharfem Blick ebendiesen Gefühlen. Dabei blickt sie auf einen lebensverändernden Sommer zurück, der sie noch über 50 Jahre später begleiten soll.

Mehr Buchkritiken:

  1. Cecelia Ahern: Alle Farben meines Lebens (Rezension)
  2. Heinz Helle - Wellen (Rezension)
  3. Sophie Kinsella - Die Familienfeier

“Das Mädchen von 58“, “das Mädchen von S.“ – Ernaux wählt ganz bewusst die dritte Person Singular, um ihre Erlebnisse als 18-Jährige Kinderbetreuerin in einer sogenannten “Kolonie“ nachzuzeichnen. Damit will sie “aufs Grausamste“ “zum Äußersten“ gehen, wenn sie von ihrem einfachen Elternhaus erzählt. Von der Gluckenhaftigkeit ihrer Mutter, von der ungekannten Freiheit, im Ferienlager unbeaufsichtigt unter gleichaltrigen Mädchen und Jungs zu sein. Und von dem Widerspruch, nicht in einen unsichtbaren Kreis aufgenommen zu werden. Als Brillenschlange verspottet und zurückgewiesen, und trotzdem immer wieder die Bestätigung der anderen zu suchen, das Erlebnis als aufregend und erwachsen wahrzunehmen. Die Annie von damals romantisiert einen auf Außenstehende voller Scham steckenden Aufenthalt zu einem bedeutungsvollen Abenteuer. Was dadurch auf eine gewisse Weise nachträglich wahr wird.

Ernaux‘ Fähigkeit, mit spezifischen Darstellungen aus ihrer eigenen Jugend unausgesprochene Wahrheiten über die Intensität des Erwachsenwerdens auf den Punkt zu bringen, ohne ein Fazit vorzuschreiben, ist bewundernswert. Sie schafft es, die Leser*innen in diesen einzigartigen Zustand zu versetzen, den fast jede*r durchlebt: Ein Sommer, der anders endet als er beginnt. Eine ordinäre Person, die für immer zum Traumbild wird. Ein Körper, der Hass und Befremdung aushalten muss. Ein Bewusstsein, das nur den Moment kennt, über den es sich verzweifelt zu definieren versucht.

Über die Autorin

Annie Ernaux wurde 1940 als Kind einer Arbeiterfamilie in der Normandie geboren. 1974 veröffentlichte sie den ersten von zahlreichen autobiografisch geprägten Romanen. Heute gilt sie als eine der bedeutendsten Schriftstellerinnen Frankreichs. “Erinnerung eines Mädchens“ erschien 2018 auf Deutsch im Suhrkamp-Verlag.

Text: Dana Wedowski