Lucas Vogelsang über sein neues Buch „Nachspielzeiten“
Es gibt Geschichten, die nur der Fußball erzählt – und denen spürt Lucas Vogelsang nach. Ob im Podcast Fußball MML mit Micky Beisenherz und Maik Nöcker, als Reporter oder als Autor im Tropen Verlag. Hier erschien im April 2024 auch sein zweites Fußball-Buch „Nachspielzeiten“ (Link), das Lucas am 4. Juli in der Heilbronner Maschinenfabrik vorstellt. Vorher haben wir mit ihm über den Jubel von Paul Gascoigne, Wrestling-Wiese und die Vorfreude auf einen geilen EM-Sommer gesprochen.
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Mit „Nachspielzeiten“ gehst du an die Ränder des Spiels. Interessiert dich das mehr, als über abkippende Sechser oder die Matchpläne von Xabi Alonso zu schreiben?
Es passiert ja schon häufig, dass wir Fußball aus dem Spiel heraus erzählen. Mit den Aufstellungen, über die Daten. Das tue ich auch, aber meine Daten sind historische Ereignisse. Ich wollte schon immer die Geschichte des Menschen erzählen und nicht nur die des Spielers. Ein Beispiel: Du kannst über Mario Balotelli anhand seiner Statistiken schreiben oder anhand seiner Skandale. Aber mich reizen vor allem die Brüche. Wie bei Paul Gascoigne, der auf dem Platz ein Genie war, aber abseits davon Angst vor dem Leben hatte. Und diese Angst dann mit Alkohol und Tabletten betäuben musste. Oder bei Mehmet Scholl, der neben dem Feld schon immer auch ein Entertainer war, ein Freigeist. Und damit auch immer wieder angeeckt, immer wieder vor die Wand gelaufen ist.
Also die viel beschworenen „echten Typen“?
Eigentlich mag ich den Begriff nicht. Gleichzeitig interessieren mich aber genau diese Typen. Weil da natürlich mehr passiert als heute, wo junge Männer mit windschnittigen Frisuren nach drei geilen Toren erstmal der Mannschaft danken und dann mit riesigen Kopfhörern wieder in den Bus steigen. Das ist alles sehr stromlinienförmig. Wenn aber jemand wie Tim Wiese 2006 gegen Juventus in der Champions League eigentlich das perfekte Spiel spielt, nur um dann als Akrobat schön den letzten Ball zu verlieren, und wenn derselbe Wiese am Ende seiner Karriere auch noch beschließt, Wrestler zu werden, dann ist dieser Typ eine Romanfigur, wie du sie dir nicht besser ausdenken kannst.
Gab es für dich ein bestimmtes Schlüsselerlebnis, durch das du gemerkt hast, dass dich gerade die Geschichten abseits des Platzes reizen?
Ich hatte nach der Journalistenschule angefangen, bei 11FREUNDE und beim Tagesspiegel über Fußball zu schreiben. Dabei wusste ich aber immer, dass das ein gutes Einfallstor sein könnte, um am Ende andere Geschichten zu erzählen. Einige der größten Reporter kamen damals aus dem Sport. Und ich war dann auch sehr lange ziemlich weit weg vom Fußball, habe Reportagen und Portraits geschrieben, mich dafür mit Menschen getroffen, bei ihnen auf der Couch gesessen. Als das aber durch Corona nicht mehr ging, habe ich angefangen, aus meiner Leidenschaft heraus wieder Geschichten über den Fußball zu erzählen. Das ging los mit einem Text über den Tritt von Eric Cantona. Und so sind dann die „Zeitlupen“ entstanden.
Sind das Storys, die du im Laufe der Zeit sammelst oder setzt du dich für ein Buch bewusst hin und recherchierst?
Es gab eine Geschichte, die ins erste Buch nicht mehr reingepasst hat: über Paul Gascoigne und Vinnie Jones. Über den Griff in die Eier. Die musste ich einfach machen, weil das reiner Pop ist. Da bewegst du dich dann tatsächlich am Rande des Spiels, zwischen Margaret Thatcher und Guy Ritchie. Auch die Geschichte hinter dem weltberühmten Nacktfoto von Beckenbauer und Pelé in der Dusche wollte ich unbedingt erzählen. Die führt ja direkt nach New York, über Henry Kissinger, immerhin Friedensnobelpreisträger und Ehrenmitglied von Greuter Fürth, bis ins Studio 54, also von der Weltpolitik zur Popkultur. Und genau dort, an diesen Demarkationslinien, finde ich Fußball richtig spannend. Alles andere ist am Ende nur Statistik.
Gibt es einen bestimmten Moment in der Fußballgeschichte, bei dem du gerne mal das ganze Drumherum erkunden würdest?
Das habe ich bereits. Denn im Kapitel über Gazza und Vinnie geht es bald nicht mehr nur um den legendären Griff in die Eier, sondern auch um das eine Tor, das mich zum Fußballfan gemacht hat. Gascoigne gegen Schottland, im zweiten Gruppenspiel 1996. Wie er den Ball über Colin Hendry lupft, dieses unfassbare Tor schießt und hinter der Grundlinie auf den Rücken fällt, die Arme weit von sich gestreckt. Wie seine Mitspieler dazu kommen, um ihm aus einer gelben Trinkflaschen Wasser in den Mund zu spritzen. Als öffentliche Anspielung auf eine Sauftour wenige Wochen zuvor, diesen Totalausfall in Hong Kong. Weil ihn die Presse danach längst abgeschrieben hatte. Dieses Tor hatte also immer schon eine Vorgeschichte. Und die habe ich jetzt im Buch erkundet.
Vom DFB-Team bis hin zum FC Liverpool unter Jürgen Klopp: Heutzutage produzieren viele Vereine und Verbände ihre Hintergrundgeschichten ja einfach selbst. Was bedeutet diese Entwicklung für deine Arbeit als unabhängiger Autor?
Es bereichert sie. Weil du dir solche Dokus nach fünf Jahren noch mal anschauen kannst und Zitate und Zugänge findest, die du sonst gar nicht hättest. In „Zeitlupen“ habe ich zum Beispiel über das Finale dahoam und die anschließende Triple-Saison der Bayern geschrieben. Da hatte ich solche Einblicke nicht, jetzt gibt es so viel Material wie noch nie. Meine Mehrleistung als Autor muss es dann allerdings sein, einen eigenen roten Faden zu finden. Ein eigenes, Obacht, Narrativ. Ich muss da eine Draufsicht entwickeln, die Bilder verbinden, kommentieren und einordnen. Das ist ja etwas ganz anderes als diese, zugespitzt formuliert, vereinsinterne Propaganda. Ich glaube aber auch, dass ein Buch, ein Text, das immer noch besser kann als jeder Film.
In der Einleitung zu „Nachspielzeiten“ beschreibst du am Beispiel von Kroatien, wie der Fußball ein ganzes Land mitreißen kann. Wie nimmst du die Stimmung aktuell in Deutschland wahr?
Ich bin, ehrlich gesagt, selbst schon wieder begeistert. Julian Nagelsmann hat es geschafft, eine Mannschaft zusammenzustellen, die wieder Lust macht auf mehr. Ich war im Oktober 2023 noch im Olympiastadion und habe mir dieses schräge Spiel gegen die Türkei angeschaut. Da dachte ich noch: Okay, das war’s. Wir können im Juni eigentlich alle in den Urlaub fahren, weil es egal geworden war. Sechs Monate später aber hast du eine Nationalmannschaft, die funktioniert. Mit den Leverkusenern Tah, Andrich und Wirtz. Mit Dortmundern, die im Champions-League-Finale stehen – gegen Real Madrid mit Kroos und Rüdiger. Im Moment ist die Euphorie so riesig, wie seit 2013, 2014 nicht mehr. Die Leute haben wieder Bock, das ist ein irrer Stimmungswechsel. Und natürlich auch großartig für meine Arbeit, denn mein Buch soll ja vor allem Lust auf Fußball machen.
Interview: Florian Deckert
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