Ein Ausstieg ohne Ende

Kernkraftwerk Neckarwestheim 2 - Atomausstieg 2022 (1)

Neckarwestheim 2 und der lange Abschied von der Atomkraft

Seit dem 1. Januar 2022 gehört Neckarwestheim 2 zu den drei letzten noch in Betrieb stehenden Kernkraftwerken in Deutschland. Doch auch hier gehen bald die Lichter aus. Neben den AKWs Emsland und Isar 2 wird auch der Reaktor im Heilbronner Umland spätestens am 31. Dezember 2022 abgeschaltet. Trotzdem gibt es nicht nur für die noch verbleibende Betriebszeit Bedenken.


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  1. Phonk. Magazin - Februar & März 2022

Einstieg, Ausstieg, hin und her

Das Gemeinschaftskraftwerk Neckar, kurz GKN, befindet sich in der Nähe der 4000-Einwohner-Gemeinde Neckarwestheim. Ursprünglich sollte das Kraftwerk im benachbarten Lauffen entstehen. Heute stehen die beiden Anlagen GKN I und GKN II auf dem Gelände eines ehemaligen Steinbruchs rund 15 Kilometer südlich von Heilbronn. 1972 begannen die Bauarbeiten für den ersten Reaktor, der vier Jahre später in Betrieb ging. Block II wurde schon 1975 beantragt und war ursprünglich als „Zwilling“ des ersten Blocks konzipiert. Während der Planungsphase erhöhte man – wohl auch im Zuge der Ölpreiskrise – die vorgesehene elektrische Leistung von 840 auf 1300 Megawatt. Nach dem Baubeginn 1982 ging GKN II schließlich 1989 als vorletztes deutsches Kernkraftwerk ans Netz. Drei Jahre zuvor kam es in Tschernobyl (heutige Ukraine) zur bisher verheerendsten Nuklearkatastrophe weltweit.

Schon während der Entstehung der beiden Reaktoren in Neckarwestheim gab es eine engagierte Anti-Atomkraftbewegung in Deutschland. Nach dem Unfall in Tschernobyl bröckelte jedoch auch in Politik und der Gesamtbevölkerung der Rückhalt für die Verwendung von Kernenergie. Ab dem Jahr 2000 trieb die erste rot-grüne Bundesregierung den Atomausstieg daher voran. 2002 wurde schließlich durch eine Novellierung des Atomgesetzes der Bau neuer Kraftwerke in Deutschland verboten. Außerdem legten Bundesregierung und Energieversorger eine durchschnittliche Regellaufzeit von 32 Jahren seit Inbetriebnahme für alle bestehenden Anlagen fest. Doch das letzte Wort sollte vorerst noch nicht gesprochen sein.

Tschernonyl & Fukushima beeinflussen die Stimmung

In den späten Zweitausenderjahren fand eine rege Diskussion über eine Laufzeitverlängerung statt. In EU-Forschungsgruppen untersuchten Expert*innen damals sogar die Auswirkungen einer Laufzeit von 60 bis 80 Jahren. Mit ihrer Mehrheit im Bundestag beschloss die neue Regierungskoalition aus CDU und FDP diese Verlängerung im Jahr 2010 tatsächlich. Neckarwestheim 2 hätte laut dieser weiteren Novelle sogar noch bis über das Jahr 2040 hinaus betrieben werden können. Doch dann kam alles anders: Am 11. März 2011 lösten schwere Erdbeben und Tsunamis die Nuklearkatastrophe von Fukushima aus. Nach Untersuchungen der Ereignisse ordnete die japanische Atomaufsichtsbehörde den Unfall am Kernkraftwerk Fukushima-Daichii mit der Höchststufe 7 auf der IMES-Skala ein. Diese Einstufung wurde erst zum zweiten Mal seit Tschernobyl getroffen und hatte weitreichende Konsequenzen.

Kernkraftwerk Tschernobyl (2009)
Stillgelegtes Kernkraftwerk Tschernobyl mit Schutzhülle und Geisterstadt Prypjat im Jahr 2009
(Foto: Mads Eneqvist / Unsplash)

So nahm die Bundesregierung die Laufzeitverlängerung, auch aufgrund des öffentlichen Drucks, nur wenige Monate später wieder zurück. Die sieben ältesten Kraftwerke des Landes – unter anderem auch Neckarwestheim 1 – wurden dauerhaft stillgelegt. Zudem beschloss der Bundestag im Juni 2011, dass Deutschland als erster führender Industriestaat bis 2022 vollständig aus der Atomenergie aussteigen würde.

Wohin mit dem radioaktiven Müll?

Ende 2022 gehen also auch in Neckarwestheim 2 die Brennstäbe aus. Das bedeutet allerdings nicht, dass die Anliegen der Atomkraftgegner*innen damit erfüllt sind. Herbert Würth vom Aktionsbündnis CASTOR-Widerstand Neckarwestheim sagt: „Der Atomausstieg ist nicht erreicht, da die Uranfabrik in Gronau und die Brennelementefabrik in Lingen weiter europaweit Atomkraftwerke mit radioaktivem Brennstoff versorgen. Und am KIT in Karlsruhe mit Steuergeldern weiter an neuen Atomkraftwerken und Atomprogrammen gearbeitet wird.“ Hinzu kommt, dass auch Neckarwestheim noch für Jahrzehnte als Zwischenlager für radioaktiven Müll fungieren wird. Denn ein Endlager, in dem die gefährlichen Überreste bis zu einer Million Jahre lang sicher verwahrt werden können, ist noch lange nicht in Sicht. Zwar möchte Finnland mit „Onkalo“ schon in zwei Jahren das weltweit erste Endlager für Atommüll in Betrieb nehmen. Allerdings erlaubt das Verursacher-Prinzip der EU keinen Export von radioaktiven Abfällen. Deshalb muss deutscher Atommüll auch auf – oder vielmehr unter – deutschem Boden untergebracht werden.

Atomausstieg 2022 - CASTOR-Behälter
Foto: Adobe Stock // Hewac

Derzeit ist noch nicht absehbar, wo ein solches Endlager hierzulande entstehen könnte. Erst 2031 soll überhaupt ein geeigneter Standort gefunden sein. Dass man dabei nicht vorschnell agiert, ist auch im Sinne von Naturschützer*innen. Fritz Mielert, Referent für Klima und Energie beim Bund für Umwelt- und Naturschutz (BUND), erläutert: „Der Fokus muss ganz klar auf den geologischen Bedingungen wie der Stabilität des Gesteins, der Unwahrscheinlichkeit von Vulkanismus und der Abschirmung gegen Grundwasser liegen. Es ist ein Spiel mit sehr vielen Unbekannten, weshalb es zentral ist, dass die Suche nicht unter Zeitdruck geschieht.“ Und selbst wenn ein Endlager steht, geschieht die Einlagerung nicht von heute auf morgen. So bleiben die hochradioaktiven CASTOR-Behälter vorerst weiter in Neckarwestheim.

Ein Zwischenlager für Jahrzehnte

Herbert Würth verdeutlicht: „Das Zwischenlager ist für 40 Jahre bis 2046 genehmigt. Es ist jedoch schon heute klar, dass die Langzeitlagerung des Atommülls bis dahin nicht geklärt ist und die CASTOREN noch für mehrere Jahrzehnte darüber hinaus in Neckarwestheim bleiben werden.“Fritz Mielert gibt außerdem zu bedenken, dass während der Zwischenlagerung in Neckarwestheim weitere Probleme auftreten können. „Das Zwischenlager ist nicht gegen Flugzeugabstürze geschützt. Zudem kann der hochradioaktive Atommüll, der in bis zu 176 Castor-Behältern steckt, nicht umgeladen werden, falls es zu Problemen mit dem strahlenden Müll oder mit den Behältern selbst kommt.“ Vorerst steht allerdings noch ein weiterer Streitpunkt im Vordergrund: der Weiterbetrieb im Jahr 2022. Auch hier stehen Aktivist*innen auf der einen und Betreiber sowie Aufsichtsbehörde auf der anderen Seite grundsätzlich verschiedene Auffassungen vertreten.

Wie gefährlich ist der Weiterbetrieb im Jahr 2022?

Der deutschen Gesellschaft für Reaktorsicherheit zu Folge sind Kernkraftwerke durch Faktoren wie den zunehmenden Materialverschleiß zum Ende ihrer Betriebslaufzeit noch mal besonders anfällig für Störfälle. Das betrifft also auch Neckarwestheim 2, das die Regellaufzeit von 32 Jahren längst überschritten hat. Sorgen machen hier vor allem Risse in Dampferzeugern, die schon seit mehreren Jahren immer wieder auftreten. Der Gutachter und ehemalige Atom-Aufseher im Bundesumweltministerium Dieter Majer warnte im Frühjahr 2021, dass hierdurch Störungen bis hin zum Super-GAU auftreten könnten. Auch Herbert Würth vom Aktionsbündnis CASTOR-Widerstand meint: „Der Weiterbetrieb von Block 2 in Neckarwestheim ist unverantwortlich, da durch die Korrosion an Heizrohren in den Dampferzeugern die Gefahr eines schweren radioaktiven Störfalls eintreten kann.“

Kernkraftwerk Neckarwestheim 2 - Atomausstieg 2022 (2)
Foto: Saban Camili / Phonk. Magazin

Das sehen Kraftwerkbetreiber EnBW und das Umweltministerium Baden-Württemberg als zuständige Aufsichtsbehörde anders. Monika Wagenbach von der EnBW-Pressestelle bekräftigt: „Alle rund 16.400 Dampferzeuger-Heizrohre von GKN II waren und sind dicht. Darüber besteht jederzeit Klarheit, weil die Heizrohre mit einer sensiblen Instrumentierung kontinuierlich überwacht werden.“ Zudem habe EnBW bereits 2018 Maßnahmen eingeleitet, um die an wenigen Rohrwänden festgestellten Schwächungen zu reduzieren. „Dass diese Maßnahmen erwiesenermaßen erfolgreich sind, hat die Revision im Sommer 2021 erneut gezeigt.“ Auch Bettina Jehne, Leiterin der Pressestelle im Umweltministerium Baden-Württemberg bestätigt. „Die Anlage wird entsprechend den Vorgaben des kerntechnischen Regelwerks betrieben, die erforderlichen Nachweise liegen alle vor und sind von mehreren Sachverständigen mit positivem Ergebnis geprüft worden.“

Fritz Mielert vom BUND widerspricht: „Es macht uns große Sorgen, dass die Risse nachgewiesenermaßen unkontrolliert wachsen können. Bis zur endgültigen Abschaltung stellt das AKW Neckarwestheim ein unkalkulierbares Risiko dar.“ Und Herbert Würth betont: „Der Betreiber EnBW und das Umweltministerium in Stuttgart gefährden mit der Genehmigung des Weiterbetriebs eines Risiko-Atomkraftwerkes die Gesundheit von Millionen Menschen in der Umgebung.“

Atomkraft trotz Atomausstieg?

Dass Neckarwestheim 2 entsprechend der Einwände der Atomkraftgegner*innen doch noch vorzeitig vom Netz gehen wird, ist unwahrscheinlich. Doch auch mit dem Abschalten des Kraftwerks und der anderen beiden verbleibenden Anlagen im Dezember 2022 wird der Strom in Deutschland wahrscheinlich nicht komplett kernkraftfrei. Das betrifft Baden-Württemberg in besonderer Weise. Denn das Bundesland verbraucht seit jeher weniger Strom als es erzeugt. Und diese Differenz muss es deshalb durch den Einkauf von Strom kompensieren. „Es ist davon auszugehen, dass der Wegfall von Kernenergie kurzfristig über steigende Stromimporte kompensiert wird, vor allem aus anderen deutschen Bundesländern sowie aus den Anrainerstaaten“, bestätigt uns Bettina Jehne vom Umweltministerium des Landes.

Allerdings ist nicht klar, wie hoch der Anteil von Kernenergie an den Zukäufen sein wird: „Zur Zusammensetzung des importierten Stroms kann keine Aussage getroffen werden, dazu fehlt die Datengrundlage.“ Aus den restlichen deutschen Bundesländern fließt natürlich kein Atomstrom, denn der Ausstieg gilt bundesweit. Doch der Anrainerstaat, aus dem Deutschland prozentual die höchsten Mengen an Stromimporten bezieht, ist Frankreich. Mit über 70 Prozent hat das Land den weltweit höchsten Anteil an Kernenergie in seinem Energiemix. Gleichzeitig musste unser westlicher Nachbar jedoch schon 2021 Strom aus Deutschland importieren. Das lag daran, dass französische Kraftwerke an ihre Grenzen kamen und den steigenden Strombedarf im kalten Winter nicht decken konnten.

An Erneuerbaren Energien führt kein Weg vorbei

Als verlässlicher Exporteur könnte Deutschland den atombegeisterten Franzosen also langfristig beweisen, dass es ohne Atomkraft besser geht. Gerade Baden-Württemberg muss hier jedoch noch viel tun, um weniger abhängig von Stromimporten zu sein. Eine Rückkehr zur Kernenergie ist aber definitiv keine Lösung, bekräftigt Bettina Jehne: „Sie ist unwirtschaftlich, hochgefährlich und die Entsorgung der hochradioaktiven Abfälle ist bis heute nicht geklärt. Stattdessen wollen wir den Ausbau der Erneuerbaren Energien und der Wasserstofftechnologie massiv vorantreiben.“

Mindmap - Energiewende Baden-Württemberg & Deutschland (2022)
Grafik: Phonk. Magazin

Text: Florian Deckert / Titelfoto: Saban Camili / Phonk